Die helle Kammer (Roland Barthes)

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  • Das fotografische Portrait ist ein geschlossenes Kräftefeld. Vier imaginäre Größen überschneiden sich hier, stoßen aufeinander, verformen sich. Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Fotograf mich hält und der, dessen er sich bedient um sein können vorzuzeigen. S.22
  • Studium (Information des Bildes) "i like" vs punctum "I love"
  • Letzten Endes ist die Fotografie nicht dann subversiv wenn sie erschreckt, aufreizt oder gar stigmatisiert, sondern wenn sie nachdenklich macht. S.49
  • Es ist eine Fantasie aus einer Art "zweitem Gesicht" hervorgegangen, die mich in eine utopische Zeit fortzutragen oder zurückzuversetzen scheint an ich weiß nicht welchen Ort außerhalb meiner Selbst.
  • Punctum: Wenn bestimmte Details, die mich "bestechen" könnten, dies nicht tun, dann zweifellos deshalb, weil der Fotograf sie mit Absicht platziert hat. Folglich ist das Detail, das mich interessiert nicht, oder wenigstens nicht unbedingt beabsichtigt und wahrscheinlich darf es das auch gar nicht sein; es befindet sich im Umfeldes fotografierten Gegenstandes als zugleich unvermeidliche und reizvolle Zutat; es bezeugt nicht unbedingt die Kunst des Fotografen; es besagt bloß, dass er sich dort befand, oder, noch dürftiger, dass er gar nicht anders konnte, als das Teilobjekt gleichzeitig mit dem Gesamtobjekt zu fotografieren. S.57
  • Das Studium ist immer codiert, das Punctum nicht. S.60
  • Es ist das, was ich dem Foto hinzufüge und was dennoch schon da ist. S.65
  • ...sie sind betäubt und aufgespießt wie Schmetterlinge. Sobald jedoch ein punctum da ist, entsteht (erahnt man) ein blindes Feld: aufgrund ihrer Halskette besaß die sonntäglich gekleidete Negerin für mich ein ganzes Leben, das sich außerhalb ihres Porträts abspielte; den mit einem undefinierbaren punctum begabten Bob Wilson, ihn würde ich gern kennenlernen. S.66
  • Das punctum ist mithin eine Art von subtilem Abseits, als führe das Bild das Verlangen über das hinaus, was es erkennen lässt; nicht nur einer imaginären Praxis entgegen, sondern hin zur abstrakten Vollkommenheit eines Wesens, dessen Seele und Körper verschmolzen sind. S.68
  • Referent:

... dass nämlich jedes Foto in gewisser Hinsicht die zweite Natur seines Referenten ist. (Referenz als Grundprinzip der Fotografie) ... nicht von der gleichen Art, wie der von anderen Darstellungssystemen. Fotografischen Referenten nenne ich nicht die möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild oder Zeichen verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Fotografie gäbe. S.32

  • Jede Fotografie hat mich als Bezugspunkt, und eben dadurch bringt sie mich zum Staunen, dass sie die fundamentalen Fragen an mich richtet: warum lebe ich hier und jetzt? Zwar setzt die Fotografie, mehr als jede andere Kunst, eine unmittelbare Präsenz in die Welt - eine Ko-Präsenz; doch ist diese Präsenz nicht nur politischer Natur sondern auch metaphysischer Natur....über den Himmel, die Sterne, die Zeit, das Leben, die Unendlichkeit und so weiter Gedanken machen. Es ist die Art von Fragen, die mir die Fotografie stellt: Fragen, die einer dummen oder simplen Metaphysik entstammen: wahrscheinlich die wahre Metaphysik. S.95
  • Die Fotografie ist gewaltsam, nicht weil sie Gewalttaten zeigt, sondern weil sie bei jeder Betrachtung den Blick mit Gewalt ausfüllt und weil nichts in ihr sich verweigern noch sich umwandeln kann. S.102
  • Zweites punctum: Zeit

Die Zukunft noch nicht kennend, die jetzt Vergangenheit ist S.106

  • Gerade weil in jedem Foto, und sei es scheinbar noch so fest der aufgeregten Welt der Lebenden verhaftet, stets dieses unabweisbare Zeichen meines künftigen Todes enthalten ist, liegt in ihm eine Herausforderung an jeden einzelnen von uns, unabhängig von jedem allgemeinen Kanon (jedoch nicht unabhängig von jeglicher Transzendenz). Im übrigen betrachtet man Fotos für sich allein. S.108
  • Jedes Foto liest sich wie die private Erscheinung seines Referenten, das Zeitalter der Fotografie entspricht genau dem Einbruch des Privaten in den öffentlichen Raum oder vielmehr der Bildung eines neuen privaten Werts: der Öffentlichkeit des privaten: das Private wird als solches öffentlich konsumiert. S.109
  • Wenn ich ein Foto liebe, wenn es mich beunruhigt, verweile ich davor. Was mache ich während der ganzen Zeit, die ich da verbringe, vor dem Bild? Ich betrachte es eingehend, als wollte ich mehr über die Sache oder die Person herausfinden, die es darstellt.

Die Fotografie rechtfertigt diesen Wunsch, auch wenn sie ihn nicht erfüllt: diese närrische Hoffnung, de Wahrheit zu enthüllen, kann ich nur haben, weil der Sinngehalt des Fotos genau in diesem "Es ist so gewesen" liegt und weil ich in der Illusion lebe, es genüge, die Oberfläche des Bildes zu reinigen, um zu dem zu gelangen, was dahinter ist; auf das Foto eingehen heißt, es umdrehen, ins Papier eindringen, auf seine Rückseite gelangen (das Verborgene ist für das westliche Denken "wahrer" als das Sichtbare). S.110

  • Im Grunde ähnelt ein Foto irgend einer beliebigen Person, nur nicht der, die es darstellt. Denn die Ähnlichkeit verweist auf die Identität des Subjekts; sie gibt es wieder "als es selbst", während ich auf ein Subjekt aus bin, das "in sich es selbst" ist. Die Ähnlichkeit lässt mich unbefriedigt, macht mich eher skeptisch... S.113
  • Denn was den Blick anlangt, "so besteht das Wesen des Bildes darin, ganz außen zu sein, ohne Intimität, und dennoch unzugänglicher und rätselhafter als die innere Vorstellung; ohne Bedeutung, doch zugleich eine Herausforderung der Unergründlichkeit jeden möglichen Sinns; verborgen und doch offenbar, von jener Anwesenheit-Abwesenheit, die die Verlockung und Faszination der Sirenen ausmacht" (Blanchot). S.117